Peter Sager:

So, jetzt knipse dein Berlin!

Bevor John und Pacco zuschnappen können, schiebt Arno Fischer mich rasch ins Gewächshaus. Draußen fletschen seine beiden Mischlinge die Zähne. Drinnen stinkt es. „Die Ente“, sagt er, „sie war verletzt, ich hab’ sie aus Berlin mitgebracht“. Zwischen Palmen, Hibiskus und Trompetenblumen brütet eine Wildente auf ihren Eiern. Nebenan flattern Dutzende von Vögeln: Kanarien, Amadinen, Waldvögel, eine ganze Voliere. Man könnte den kleinen stämmigen Mann für einen Rentner halten, der hier im brandenburgischen Gransee seinem Hobby nachgeht, der Pflege exotischer Pflanzen und Vögel.

Was denn der Anlass der Geschichte sei, hatte er am Telefon gefragt, mit dem trotzigen Zusatz: „Ich mach’ nämlich zum Siebzigsten keine Ausstellung! Ich will keine vorzeitige Beerdigung.“ In dem Idyll von Gransee lebt ein Mann mit einer großen Wut. Unter Deutschlands Fotografen ist Arno Fischer der bekannteste Unbekannte. Im Osten abgewickelt, im Westen kaum Wahrgenommen, soll er nun vortanzen im „Fotozirkus Deutschland“? Widerstrebend legt er mir ein paar Bilder auf den Tisch.

Obenauf liegt ein Leporello mit fünf Fotos. Menschen auf dem Kurfürstendamm, auf einem Bretterzaun in Ostberlin, auf einem Landungssteg am Müritzsee. Sie stehen oder sitzen da und beobachten: eine Demonstration, einen Staatsbesuch, ein Stück Wasser an einem Wintertag. Sie warten, dass etwas geschieht. Aber was? Gesichter, Haltungen zwischen Neugier und Angst, Erwartung und Resignation. Zuschauer am Rand von Ereignissen, die sie selbst betreffen: der Anti-Atomprotest, der Besuch Chruschtschows. Bilder aus einer Zeit, als Berlin geteilt, aber noch nicht vermauert war. Und die beiden Paare an der Müritz, zwei junge Frauen, zwei alte Männer, beziehungslos nebeneinander auf einem Steg, dessen Geländer sie umschließt wie ein Laufstall: Worauf warten sie? Auf nichts mehr, auf alles.

Diese drei Fotos aus den fünfziger Jahren stehen auf Arno Fischers Leporello zwischen zwei Berliner Nachtaufnahmen: die brennenden Flaktürme am Humboldthain, 1943, und das Silvesterfeuerwerk am Brandenburger Tor, 1989. Der Untergang seiner Heimatstadt, die Jubelparty nach dem Fall der Mauer, ein Ende, ein Anfang, ein doppelter deutscher Feuerzauber. Das Leben ein Leporello. Und wenn man´s fotografiert, bleiben ein paar Augenblicke in Schwarz und Weiß und sehr viel Grau. [...]

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Aus: Peter Sager: Augen des Jahrhunders . Begegnungen mit Fotografen
Lindinger + Schmid Verlag GdbR, 1998
ISBN 3-929970-31-7